»Mit ihrer Testamentsverfügung hat Gertrud Kassel nicht nur einen Maßstab hinsichtlich öffentlicher Universitäten […] gesetzt. Sie ist mit ihrem Entschluss gleichsam in die Riege der großen Frankfurter Bildungsmäzene aufgestiegen.«
– (Universitätspräsident Steinberg)

Das Ehepaar Kassel? Sie lebten zurückgezogen, eigentlich wissen wir wenig über sie.« Spurensuche in den Kreisen der Börsianer, die in den 1950er und 1960er Jahren das Frankfurter Parkett beherrschten. Wer waren Gertrud und Alfons Kassel, deren Geschäftssinn und Großzügigkeit die Universität Frankfurt heute eine Stiftung über 33 Millionen Euro verdankt? »Ja, Alfons Kassel – ein genialer Wertpapierhändler, schlitzohrig im guten Sinne.« Die Börsianer von einst, als noch zwischen 12 und 14 Uhr hektisch auf dem Parkett gehandelt wurde, zollen dem gebürtigen Sachsenhäuser Alfons Kassel noch heute Respekt. Er war ein Unikat, passte sich nicht nahtlos in die Frankfurter Banker- und Börsenszene ein, die sich bei diversen kulturellen und gesellschaftlichen Veranstaltungen regelmäßig traf, und er war doch von allen hoch geschätzt. […] Der kleine quirlige Mensch (»es blieb nicht unbemerkt, dass er erhöhte Absätze trug«) stand unter Höchstspannung, so lange die Börse geöffnet war – doch »nachbörslich«, wenn die Geschäfte gut gelaufen waren und er gegen 14.30 Uhr von der Innenstadt ins Büro in der Niederrader Paul-Ehrlich-Straße unterwegs war, »traf man ihn aufgeschlossen und entspannt«. Dort in seinem Büro mit dem imposanten Schreibtisch aus Mooreiche wurden die Geschäfte abgewickelt, die Börsennotizen verarbeitet und die Depot-Bücher akribisch mit der Hand geführt – dabei assistierte ihm ein kleiner Kreis von Mitarbeitern, darunter Gertrud Siewert, seine spätere Ehefrau. 1914 in Pommern geboren, machte sie eine Lehre als Textilhändlerin und kam als 20-Jährige nach Berlin, war dort Assistentin des Direktors bei der Merck-Finck-Bank.

»Auf Empfehlung seiner Berliner Bankfreunde stellte Alfons Kassel die junge Frau ein«, so Sättele. Es verband sie offenbar nicht nur die Leidenschaft für das Börsengeschäft: Ende der 1960er Jahre heiratete Alfons Kassel seine langjährige Lebensgefährtin, mit der er eher zurückgezogen in der Sachsenhäuser Gartenstraße und später auf dem Lerchesberg lebte; nur gelegentlich gingen sie zu offiziellen Empfängen, luden Geschäftspartner zum Essen nach Hause ein, eher traf man sie in Sachsenhäuser Äppelwoi-Kneipen. Neben ihrem bescheidenen Alltagsleben gönnten sie sich doch immer mal »etwas Gutes«: Kuren in Bad Wörishofen, Winterurlaub in Arosa, Sommerferien an der holländischen Nordseeküste, im Seebad Noordwijk, rhythmisierten den arbeitsreichen Frankfurter Alltag auf angenehme Weise. »Und wenn die Sommerhitze über Frankfurt lag, übernachtete das kinderlose Paar gern im Sonnenhof in Königstein«, erinnert sich Sättele an Erzählungen von Gertrud Kassel. […]

1914 in Pommern geboren, machte sie eine Lehre als Textilhändlerin und kam als 20-Jährige nach Berlin

1975 starb Kassel an den Folgen eines Herzinfarkts während des Urlaubs in Arosa; das Bankgeschäft wurde abgewickelt, und die Kunden wurden auf das Bankhaus Metzler übertragen – dies war ganz in Kassels Sinne, der über die Börse gut mit Albert von Metzler befreundet war. Gertrud Kassel, die ihren Mann »sehr verehrte und sich nie zutraute, das Geschäft allein zu leiten« – so Sättele – bewahrte das Depot ihres Mannes, dessen Wert damals etwa vier Millionen Mark betrug. Im Verborgenen – vom Vermögen wussten nur wenige. Sie lebte ein gutes, zurückgezogenes Leben, umgeben von einigen engen Freunden und Verwandten. Um ihre Person machte sie ebenso wenig Aufhebens wie um ihr Vermögen. Bis zuletzt verfolgte sie täglich die Börsenkurse und war sehr darauf bedacht, das vorhandene Vermögen zu wahren und zu mehren. »Sie wusste alles über ihre Gesellschaften, hielt ihre Unternehmen, nicht ihre Papiere«, berichtet Friedrich von Metzler, der die Betreuung von Gertrud Kassel von seinem Vater übernommen hatte. Und Sättele fügt hinzu: »Mit Kursschwankungen, die meist weniger stark waren als die Börse insgesamt, konnte die alte Dame gut umgehen – nicht zuletzt, weil sie von der guten Substanz ihrer ertragreichen Gesellschaften überzeugt war.« Grundlage bildete das Konzept langfristiger Aktienanlage ausschließlich in deutsche Substanzwerte, das ihr Mann schon in den 1970er Jahren verfolgt hatte. Mit Erfolg – wie sich nach über 30 Jahren zeigt: Denn aus den anfänglich vier Millionen Mark sind nun 33 Millionen Euro geworden. […]

Gertrud Kassel kannte die Geschichten der Frankfurter Mäzene, denen die Stadt, aber auch die Universität so viel zu verdanken haben. Doch zu Lebzeiten in den Kreis der Stifter und Sponsoren einzutreten, das entsprach nicht ihrer Persönlichkeit. »Wir brauchen gescheite junge Leute in Deutschland, junge Menschen, die sich in der Wissenschaft engagieren«, so unterstützte sie 1985 Sätteles Vorschlag, mit ihrem Vermögen eine Stiftung zugunsten der Universität zu gründen. Nur eine Bedingung knüpfte Gertrud Kassel an dieses Vorhaben: Stillschweigen bis zu ihrem Tod, ihr Name sollte unerwähnt bleiben. In kleinem Kreis mit dem Physiker und Freund Prof. Dr.Walter Greiner und dem damaligen Uni-Präsidenten Prof. Dr. Klaus Ring schmiedete Sättele die Stiftungspläne, ein Abend im Herbst 1986 im Hause Greiner ist allen Beteiligten noch in lebhaftester Erinnerung. »Ich habe nie einen Versuch unternommen, etwas über die Identität der Stifterin zu erfahren«, respektierte Ring den ausdrücklichen Wunsch der Stifterin. […] Als Mitte der 1980er Jahre die Grundlage für die Stiftung gelegt wurde, hatte das Depot bereits einen Wert von fast zehn Millionen Mark, erinnert sich Ring. Über zwanzig Jahre vergingen, Gertrud Kassel vergewisserte sich im Gespräch mit ihrem Vertrauten Sättele gelegentlich, ob mit der Universität alles auf einem guten Weg sei und nahm verhalten Anteil an Veränderungsprozessen der Johann Wolfgang Goethe-Universität. Dass ihr Geburtsjahr auch das Gründungsjahr der von Frankfurter Bürgern gestifteten Universität war, registrierte sie mit ihrem Faible für Kurse und Zahlen mit Vergnügen. Innerhalb der Universität war das Geheimnis der Kassel-Stiftung zeitweise so gut gehütet, dass der seit 2000 amtierende Präsident Prof. Dr. Rudolf Steinberg erst im Zusammenhang mit der Gründung des Frankfurt Institute for Advanced Studies (FIAS) über Greiner davon erfuhr. »Natürlich hat die Aussicht auf eine solche umfangreiche Stiftung meine Vision beflügelt, die Tradition unserer Universität wieder zu beleben und sie langfristig in eine Stiftungsuniversität umzuwandeln. Zudem bewies es mir erneut, dass es vermögende Menschen gibt, die bereit sind, im Sinne des traditionsreichen Frankfurter Mäzenatentums etwas für ihre Universität zu investieren«, so Steinberg, der den Wunsch der Stifterin, bis zum Tode Stillschweigen zu wahren, selbstverständlich respektiert hat.

Am 16. Juli 2007 wurde das Geheimnis gelüftet: Auf einer Pressekonferenz im historischen Eisenhower- Raum auf dem Campus Westend informierten die drei Stiftungsvorstände Sättele, Steinberg und von Metzler über die selbstständige »Alfons- und Gertrud-Kassel- Stiftung«, die mit einem Kapital in Höhe von 33 Millionen Euro ausgestattet ist. Zweck der Stiftung ist die Förderung der wissenschaftlichen Forschung und Lehre an der Universität Frankfurt. Dies ist der höchste Stiftungsbetrag, den die Universität Frankfurt, die als erste deutsche Stiftungsuniversität gegründet wurde, bisher aus privater Hand bekommen hat. Bankier Friedrich von Metzler betonte, dass das Stiftungsvermögen im Rahmen der großzügigen Matching-Funds- Zusage des Landes Hessen an die Universität noch einmal verdoppelt werde – auf 66 Millionen Euro. Er wies zudem auf die typisch frankfurterische Tradition hin – »das bürgerliche Engagement für unsere Stadt und ihre Universität«. Der Vorstand der Stiftung, deren Vermögensverwaltung weiter dem Bankhaus Metzler obliegt, wird nun darüber entscheiden, wie die etwa 800 000 Euro pro Jahr aus dem Stiftungsvermögen für Forschung und Lehre vergeben werden. Wie die Universität dem Stifterpaar ein ehrendes Andenken schafft, wird spätestens zum 100. Geburtstag von Gertrud Kassel und der Universität im Jahre 2014 öffentlichkeitswirksam werden. Doch Universitätspräsident Steinberg nahm das Ehepaar bereits bei der Pressekonferenz in den illustreren Kreis der bedeutenden Stifter auf: »Mit ihrer Testamentsverfügung hat Gertrud Kassel nicht nur einen Maßstab hinsichtlich der Förderung öffentlicher Universitäten im Allgemeinen und der Universität Frankfurt im Speziellen gesetzt. Die im Privaten von so großer Zurückhaltung geprägte Dame ist mit ihrem Entschluss gleichsam in die Riege der großen Frankfurter Bildungsmäzene aufgestiegen – im gleichen Atemzug zu nennen mit Persönlichkeiten wie Johanna Quandt oder Karin und Carlo Giersch, Arthur von Weinberg oder Wilhelm Merton.«

Dieser Text enthält Auszüge aus dem Artikel »Spurensuche: Von Börsenkursen und Lebenskurven« von Ulrike Jaspers. Den ganzen Artikel können Sie hier herunterladen.

Weitere Informationen können Sie Ekkehardt Sätteles Beitrag über die Entstehung der Alfons und Gertrud Kassel-Stiftung entnehmen. Diesen Artikel können Sie hier herunterladen.